Film: Have a Great Day
Hofer Filmtage 1998
Film: Der König vom Block
Filmfest München 2001
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2001
Süddeutsche Zeitung vom 24.10.2001
Film: Hochzeitszone (Der schönste Tag)
Filmfest International Panorama Athen 2005
Gabriele Wagner – Fotohof Salzburg
Carolin Thummes fotografiert Hydranten seit der Zeit ihres Studiums an der Hochschule für Fernsehen und Film in München in den späten 1980er-Jahren praktisch überall und ungeniert. Eine große Anzahl an Arbeiten ist seither entstanden, die Werkidee hat immer noch Gültigkeit und wird kontinuierlich fort- bzw. umgesetzt.
Handelt es sich bei ihrer Serie um ein Zeitdokument oder um die Geschichte eines bestimmten Ortes? Weder noch. Vielmehr liegt uns ein unerschöpfliches Porträtarchiv eines Wasserverteilersystems vor, das gleichzeitig als Archiv von Geschichten fungiert. Die Fotografin beschreibt ihr Tun selbst: „Ich folge den Protagonisten des Alltags, tauche in ihre Welt ein, lasse mich fallen.“ Sie erklärt uns mit ihren Fotografien nichts über Funktionsweise und technische Besonderheiten dieser meist übersehenen Säulen, sondern berichtet von ihnen, als führten sie ein eigenes Leben, einen eigenen Alltag als Nebendarsteller der Siedlungsgebiete.
Obwohl Thummes in der Regel mit bewegten Bildern, sprich Filmen umgeht, ist in dieser Serie jedes Bild nach klassischen Gestaltungsprinzipien der Fotografie angelegt. Der Bildaufbau folgt den Regeln des goldenen Schnitts, was sich dadurch zeigt, dass Carolin Thummes den Hydranten meist exakt auf die Drittellinie setzt. Diese erhält man, indem man die Bildfläche vertikal oder horizontal in drei gleiche Teile teilt. Durch dieses einfache Mittel der Flächengliederung wird das Bild dynamisiert und mit erzählerischem Potenzial ausgestattet; zugleich wird dem Betrachter klargemacht, wer hier der Protagonist der Erzählung ist. Ein weiteres wichtiges Gestaltungsmittel in der Fotografie ist das Licht. Mit Hilfe des Lichts kann ein Künstler das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Vergleicht man den Bildraum mit einem Bühnenraum, wird dies sofort verständlich: Die für die Aussage wichtigen Partien stehen im Licht, sind beleuchtet oder leuchten selbst. Die Perspektive der Fotografin, ihr bei der Aufnahme eingenommener Standpunkt, fungiert als weiteres Gestaltungsmittel. Thummes begibt sich in der Regel mit dem Protagonisten auf Augenhöhe – sie berichtet aus der Sicht des Hydranten. Dadurch weist sie dem unbelebten Gegenstand einen Aktionsraum zu. Sie bindet den Hydranten in ein Achsensystem ein, was ihn einerseits im Bildraum fixiert und andererseits zu seiner Umgebung in Beziehung setzt. Der Nebendarsteller des Stadtraums wird formal und inhaltlich zum Dreh- und Angelpunkt der Bilderzählung.
Einige Fotografien widmen sich allein dem Gegenstand. In ihnen gibt es nichts anderes zu betrachten als den schlichten Hydranten. Meist wählt die Künstlerin dazu die Draufsicht. In der Regel verleiht die Vogelperspektive einem Gegenstand oder Menschen eine untergeordnete Rolle, da die erhöhte Position alles Dargestellte gleichwertig erscheinen lässt. Thummes setzt die Draufsicht hier jedoch nicht zur Nivellierung ein, sondern als Moment der Hervorhebung. Sie konzentriert sich in diesen Aufnahmen auf Details, beispielsweise die obere Abdeckung, den Kopf, des Hydranten. Die Umgebung wird auf ein Minimum reduziert bzw. ganz ausgeblendet. Nur der Gegenstand zählt, ihm gebührt alle Aufmerksamkeit, seine Erscheinung steht im Fokus, gezeichnet von der Brutalität des urbanen Raumes, der Einwirkung der Jahreszeiten und der Umwelteinflüsse. Stets bewahrt der Hydrant seine Würde; Roststellen, abgesplitterte Farbe, vergangener Glanz, kleine Blessuren betonen nicht die Vergänglichkeit, sondern tragen bei zu seinem Ruhm. Mit der Ästhetisierung der äußeren Erscheinungsform des Hydranten, die sich an der Porträtfotografie orientiert, werden seine formalen Eigenschaften als schön gewürdigt und somit innerlich anthropomorphisiert. Der Nebendarsteller wird in diesen Porträts zu einer tragikomischen, des Leidens fähigen Figur, die auf seltsame Weise teilnimmt am sie umgebenden Geschehen.
Das eingangs beschriebene System der fotografischen Sprache lässt uns den Hydranten als Zentrum des Bildes wahrnehmen, auch wenn er – gemäß seiner Stellung als Nebendarsteller – am Bildrand positioniert ist. Formal betrachtet steht er im Fokus der Aufmerksamkeit. Der Hydrant wird zum Akteur bei Aufmärschen, Demos und Marathons, zum Helfer bei Umzügen, zum Zeugen von Verkehrsdelikten, zum Träger von Informationen usw. Jede Bewegung, ob durch schräge Linien oder Bewegungsunschärfen im Bild hervorgerufen, verankert den Hydranten an einer strategisch zentralen Stelle und entwickelt so die Handlung rund um ihn. Als menschenähnlicher Akteur nimmt er eine Schlüsselrolle im Bildgeschehen ein.
Thummes folgt mit dieser Vorgehensweise einer bewährten fotografischen Tradition, die unter anderen von Henri Cartier-Bresson in den 1950er-Jahren als State of the Art der Fotografie vertreten? wurde: der des decisive moment, des Moments des richtigen Augenblicks, eingefroren mit der Kamera und von Cartier-Bresson zur Meisterschaft gebracht. Im Aufsatz „Der entscheidende Augenblick“ von 1952 empfiehlt er:
„Damit ein Sujet mit seiner ganzen Intensität zur Geltung kommt, muss das Formale mit aller Entschiedenheit geklärt sein. Man muss seine Kamera mit einer bestimmten Beziehung zu dem Objekt in den Raum stellen – und damit treten wir in das umfangreiche Gebiet der Komposition ein. Die Fotografie ist für mich Feststellung eines bestimmten Rhythmus der Oberflächen, Konturen und Tonwerte innerhalb der Wirklichkeit; das Auge schneidet sich aus dieser Wirklichkeit ein Sujet heraus, und der Apparat braucht dann nur seine Schuldigkeit zu tun, die Entscheidung des Auges auf die Fläche des Films zu bannen. Ein Foto wird in seiner Totalität betrachtet mit einem Male genau wie ein Gemälde; seine Komposition von etwas Gleichzeitigem, die organische Koordination optischer Elemente. Man kann nichts ins Blaue hinein komponieren, es gehört eine Notwendigkeit dazu, und man kann auch nicht Inhalt und Form voneinander trennen.“ (Aus: Henri Cartier-Bresson, Der entscheidende Augenblick, 1952)
Thummes’ Praxis folgt ein Stück weit dieser Empfehlung von Cartier-Bresson. Ist sie dadurch nur eine Epigonin des berühmten Dokumentaristen? Was macht ihre Nebendarsteller zu Zeitgenossen?
1976 ruft Cartier-Bresson noch einmal die Thesen seines Aufsatzes von 1952 in Erinnerung und erweitert sie mit einigen Zusätzen – 13 Jahre danach wird Carolin Thummes mit ihrer Serie vom Nebendarsteller beginnen.
„Die Fotografie hat sich seit ihren Anfängen nicht verändert, wenn man von ihren technischen Aspekten absieht, die für mich keine wichtige Rolle spielen. Die Fotografie ist nur scheinbar ein einfaches Metier; als vielseitiger und mehrdeutiger Prozess bietet es denen, die es betreiben, nur einen gemeinsamen Nenner: das Instrument. Was aus diesem Aufnahmegerät herauskommt, entgeht nicht den ökonomischen Zwängen einer Welt der Verschwendung, entkommt nicht ihren ständig zunehmenden Spannungen und ökologischen Konsequenzen.“ (Aus: Henri Cartier-Bresson, Die Erfindung nach der Natur, 1976)
In den 1970ern und der ersten Hälfte der 1980er-Jahre verschob sich die Rolle der Fotografie innerhalb der bildenden Kunst von der eines Nebendarstellers zu ihrem Leitmedium. Anders ausgedrückt: Seit spätestens 1985 ist die Fotografie als Hauptdarstellerin auch in Europa angekommen. Ihre technischen und wahrnehmungstechnischen Bedingungen haben sich von Anbeginn an kaum verändert. Verändert haben sich aber der Blick des Fotografen und seine Ideen, die das Bild bereits formen, bevor es entsteht.
Der Blick der Künstler fällt auf die Alltäglichkeiten des Lebens. Das Unscheinbare, Beiläufige, das Gewöhnliche wird entdeckt, von den Künstlern in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und somit bedeutsam. Es ist der bereits zitierte decisive moment und nicht das decisive motif, auf den es ankommt, nicht das Was, sondern das Wie. Es ist nicht die Bedeutung des einzelnen Ereignisses, die eine künstlerische Auseinandersetzung rechtfertigt, sondern es ist die künstlerische Sprache an sich, die Autorschaft, die den Gradmesser angibt.
Gerade in den 1960er- und 1970er-Jahren gelangt die Peripherie der Städte in den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses, bekommen die Vororte in der Fotografie eine große Bedeutung. Hier spielt sich das wirkliche Leben eines Großteils der Bevölkerung ab, hier wird gewohnt, gelebt, gearbeitet, gehandelt, gekauft und erzeugt. Die historischen Zentren hingegen verlieren langsam ihre angestammten Positionen.
Wirft man abschließend noch einen Blick auf den Schauplatz, an dem die Nebendarsteller von Carolin Thummes agieren, so kann man auch hier diese Verschiebung der Interessen feststellen. Der öffentliche Raum ist seit den späten 1960er-Jahren immer stärker zu einem Handlungsraum für alle geworden. Er dient nicht mehr allein der mächtigsten Gruppe zur Manifestation ihrer Ideen, sondern er wird zeitweise von vielen verschiedenen Gruppen in Anspruch genommen. Der öffentliche Raum ist kein neutraler Raum, sondern etwas Veränderbares und Vorläufiges, er ist heute ein soziales Konstrukt, das immer neu definiert werden muss.
Er hat verschiedene Wertigkeiten, je nach Zonen. Er ist ein Wirtschaftsraum, fungiert als Werbeträger, Erholungsraum, Verkehrsraum, Kommunikationsraum, sozialer Raum und als Raum, in dem Kunst stattfindet.
Auf dieser globalen Entwicklung fußt das Projekt von Carolin Thummes; sie ermöglicht es der Künstlerin, ihre Nebendarsteller auf der Bühne des öffentlichen Raumes handeln zu lassen. Es ist ihr Blick, ihre Sicht auf die Welt, die den Nebendarsteller in der zeitgenössischen Kunst verankert. Indem sie sich auf ein vollkommen unwichtiges Motiv konzentriert, das nichts Repräsentatives an sich hat, mit Beharrlichkeit und Witz über einen langen Zeitraum daran festhält und immer wieder von nichts anderem als von scheinbarer Beiläufigkeit und Banalität erzählt, verstehen wir ihre Exaktheit und lassen uns von der Einzigartigkeit des Hydranten und seiner Verkleidungen faszinieren. Thummes will keine Avantgarde sein, sie gibt uns keine Informationen, sie verspricht uns nichts für die Zukunft. Sie konfrontiert uns allein durch ihre Autorschaft und mit der Faszination, die sie für den Gegenstand empfindet. Sie hat ausgewählt und entschieden, sie erzählt über das Hier und Heute, und es liegt am Betrachter, es ihr gleichzutun.
Magazin untitled
Herbst 2011
Kronen Zeitung (Salzburg Ausgabe)
15.9.2015
Dr. Petra Noll, Kuratorin und Autorin für aktuelle Kunst
Die Arbeit macht aufmerksam auf ein heute sich stetig reduzierendes Sozialverhalten und damit verbundene Kontaktarmut. Dynamische Wechselseitigkeit, körperliche Präsenz, persönlicher Dialog und direkter Blickkontakt scheinen – aus Unsicherheit und Angst vor dem „Anderen“, dem schwer einschätzbaren „Fremden“ – zurückgetreten zu sein vor einem egozentrisch ausgerichteten Dasein in einer zunehmend digitalisierten Welt. Nichtbeachtung und Einsamkeit sind hier nicht selten die Begleiter. Carolin Thummes antwortet darauf mit eindringlichen Porträts, die uns das Kostbare einer leiblichen Präsenz vor Augen führen. Aber die dargestellte Situation bleibt ambivalent wie das Leben selbst; so sind die Fotografien nicht auf voyeuristische Sinnlichkeit reduziert. Vielmehr werden die BetrachterInnen durch intensive Blicke herausgefordert, und auch die Porträtierte kann ihr Ich nicht verbergen (Augen als Spiegel der Seele) – obwohl es der Künstlerin nicht grundsätzlich um identitätsstiftende Untersuchungen geht. So steckt in jedem fotografischen Porträt sowie in jedem „live“-Kontakt, in jedem „Vom-anderen-gesehen-werden“ auch die Gefahr des Ausgeliefertseins.
Thomas Licek - Managing Director, Eyes On – Monat der Fotografie Wien
„Blickkontakt“: Sind Sie jemand, der ihn sucht oder doch lieber vermeidet? Wahrscheinlich werden Sie sagen, dass es darauf ankommt. Wo und mit wem. Hier, mit dieser jungen Frau auf den Fotos? Ich schaue zurück, weil ich mich sicher fühle. Würde ich ihr auf der Straße begegnen wäre es wohl anders. Ist ihr Blick ein- oder aufdringlich? Irgendetwas irritiert mich. Ist es die Mode, die Zigarette – oder doch nur diese selbstbewusste Art zu posieren? Kann es tatsächlich sein, dass diese vor knapp zwanzig Jahren aufgenommenen Bilder schon Zeugnis einer anderen Kultur sind?
Der Blickkontakt wird zum Rückblick in die eigene Vergangenheit. Ich versinke in einer ambivalenten Erinnerung, in der sich der Moment über Jahre dehnt. Ein Foto als Auslöser.
Carolin Thummes gelingt es durch die raffinierte Gegenüberstellung von Text und Fotografie fast schon wehmütige Erinnerungen an eine prä-digitale Ära wachzurufen. Während sich in den Bildern zumindest die Möglichkeit einer zwischenmenschlichen Beziehung manifestiert zeigt sich in dem dekonstruierten und in oft sinnlose Fetzen zerrissenen Titel die Achtlosigkeit heutiger Kommunikation. In „Blickkontakt“ wirkt die Verlockung des eventuell Versäumten effektvoller als die Mahnung vor der Isolation und macht damit die reale Welt erstrebenswerter als die virtuelle.
profil vom 18.4.2014
woman vom 11.4.2014
© 2019 Carolin Thummes
Film: Have a Great Day [Hofer Filmtage 1998]
Film: Der König vom Block [Filmfest München 2001]
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2001
Süddeutsche Zeitung vom 24.10.2001
Film: Hochzeitszone (Der schönste Tag) [Filmfest International Panorama Athen 2005]
Der Nebendarsteller:Gabriele Wagner – Fotohof Salzburg
Carolin Thummes fotografiert Hydranten seit der Zeit ihres Studiums an der Hochschule für Fernsehen und Film in München in den späten 1980er-Jahren praktisch überall und ungeniert. Eine große Anzahl an Arbeiten ist seither entstanden, die Werkidee hat immer noch Gültigkeit und wird kontinuierlich fort- bzw. umgesetzt.
Handelt es sich bei ihrer Serie um ein Zeitdokument oder um die Geschichte eines bestimmten Ortes? Weder noch. Vielmehr liegt uns ein unerschöpfliches Porträtarchiv eines Wasserverteilersystems vor, das gleichzeitig als Archiv von Geschichten fungiert. Die Fotografin beschreibt ihr Tun selbst: „Ich folge den Protagonisten des Alltags, tauche in ihre Welt ein, lasse mich fallen.“ Sie erklärt uns mit ihren Fotografien nichts über Funktionsweise und technische Besonderheiten dieser meist übersehenen Säulen, sondern berichtet von ihnen, als führten sie ein eigenes Leben, einen eigenen Alltag als Nebendarsteller der Siedlungsgebiete.
Obwohl Thummes in der Regel mit bewegten Bildern, sprich Filmen umgeht, ist in dieser Serie jedes Bild nach klassischen Gestaltungsprinzipien der Fotografie angelegt. Der Bildaufbau folgt den Regeln des goldenen Schnitts, was sich dadurch zeigt, dass Carolin Thummes den Hydranten meist exakt auf die Drittellinie setzt. Diese erhält man, indem man die Bildfläche vertikal oder horizontal in drei gleiche Teile teilt. Durch dieses einfache Mittel der Flächengliederung wird das Bild dynamisiert und mit erzählerischem Potenzial ausgestattet; zugleich wird dem Betrachter klargemacht, wer hier der Protagonist der Erzählung ist. Ein weiteres wichtiges Gestaltungsmittel in der Fotografie ist das Licht. Mit Hilfe des Lichts kann ein Künstler das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Vergleicht man den Bildraum mit einem Bühnenraum, wird dies sofort verständlich: Die für die Aussage wichtigen Partien stehen im Licht, sind beleuchtet oder leuchten selbst. Die Perspektive der Fotografin, ihr bei der Aufnahme eingenommener Standpunkt, fungiert als weiteres Gestaltungsmittel. Thummes begibt sich in der Regel mit dem Protagonisten auf Augenhöhe – sie berichtet aus der Sicht des Hydranten. Dadurch weist sie dem unbelebten Gegenstand einen Aktionsraum zu. Sie bindet den Hydranten in ein Achsensystem ein, was ihn einerseits im Bildraum fixiert und andererseits zu seiner Umgebung in Beziehung setzt. Der Nebendarsteller des Stadtraums wird formal und inhaltlich zum Dreh- und Angelpunkt der Bilderzählung.
Einige Fotografien widmen sich allein dem Gegenstand. In ihnen gibt es nichts anderes zu betrachten als den schlichten Hydranten. Meist wählt die Künstlerin dazu die Draufsicht. In der Regel verleiht die Vogelperspektive einem Gegenstand oder Menschen eine untergeordnete Rolle, da die erhöhte Position alles Dargestellte gleichwertig erscheinen lässt. Thummes setzt die Draufsicht hier jedoch nicht zur Nivellierung ein, sondern als Moment der Hervorhebung. Sie konzentriert sich in diesen Aufnahmen auf Details, beispielsweise die obere Abdeckung, den Kopf, des Hydranten. Die Umgebung wird auf ein Minimum reduziert bzw. ganz ausgeblendet. Nur der Gegenstand zählt, ihm gebührt alle Aufmerksamkeit, seine Erscheinung steht im Fokus, gezeichnet von der Brutalität des urbanen Raumes, der Einwirkung der Jahreszeiten und der Umwelteinflüsse. Stets bewahrt der Hydrant seine Würde; Roststellen, abgesplitterte Farbe, vergangener Glanz, kleine Blessuren betonen nicht die Vergänglichkeit, sondern tragen bei zu seinem Ruhm. Mit der Ästhetisierung der äußeren Erscheinungsform des Hydranten, die sich an der Porträtfotografie orientiert, werden seine formalen Eigenschaften als schön gewürdigt und somit innerlich anthropomorphisiert. Der Nebendarsteller wird in diesen Porträts zu einer tragikomischen, des Leidens fähigen Figur, die auf seltsame Weise teilnimmt am sie umgebenden Geschehen.
Das eingangs beschriebene System der fotografischen Sprache lässt uns den Hydranten als Zentrum des Bildes wahrnehmen, auch wenn er – gemäß seiner Stellung als Nebendarsteller – am Bildrand positioniert ist. Formal betrachtet steht er im Fokus der Aufmerksamkeit. Der Hydrant wird zum Akteur bei Aufmärschen, Demos und Marathons, zum Helfer bei Umzügen, zum Zeugen von Verkehrsdelikten, zum Träger von Informationen usw. Jede Bewegung, ob durch schräge Linien oder Bewegungsunschärfen im Bild hervorgerufen, verankert den Hydranten an einer strategisch zentralen Stelle und entwickelt so die Handlung rund um ihn. Als menschenähnlicher Akteur nimmt er eine Schlüsselrolle im Bildgeschehen ein.
Thummes folgt mit dieser Vorgehensweise einer bewährten fotografischen Tradition, die unter anderen von Henri Cartier-Bresson in den 1950er-Jahren als State of the Art der Fotografie vertreten? wurde: der des decisive moment, des Moments des richtigen Augenblicks, eingefroren mit der Kamera und von Cartier-Bresson zur Meisterschaft gebracht. Im Aufsatz „Der entscheidende Augenblick“ von 1952 empfiehlt er:
„Damit ein Sujet mit seiner ganzen Intensität zur Geltung kommt, muss das Formale mit aller Entschiedenheit geklärt sein. Man muss seine Kamera mit einer bestimmten Beziehung zu dem Objekt in den Raum stellen – und damit treten wir in das umfangreiche Gebiet der Komposition ein. Die Fotografie ist für mich Feststellung eines bestimmten Rhythmus der Oberflächen, Konturen und Tonwerte innerhalb der Wirklichkeit; das Auge schneidet sich aus dieser Wirklichkeit ein Sujet heraus, und der Apparat braucht dann nur seine Schuldigkeit zu tun, die Entscheidung des Auges auf die Fläche des Films zu bannen. Ein Foto wird in seiner Totalität betrachtet mit einem Male genau wie ein Gemälde; seine Komposition von etwas Gleichzeitigem, die organische Koordination optischer Elemente. Man kann nichts ins Blaue hinein komponieren, es gehört eine Notwendigkeit dazu, und man kann auch nicht Inhalt und Form voneinander trennen.“ (Aus: Henri Cartier-Bresson, Der entscheidende Augenblick, 1952)
Thummes’ Praxis folgt ein Stück weit dieser Empfehlung von Cartier-Bresson. Ist sie dadurch nur eine Epigonin des berühmten Dokumentaristen? Was macht ihre Nebendarsteller zu Zeitgenossen?
1976 ruft Cartier-Bresson noch einmal die Thesen seines Aufsatzes von 1952 in Erinnerung und erweitert sie mit einigen Zusätzen – 13 Jahre danach wird Carolin Thummes mit ihrer Serie vom Nebendarsteller beginnen.
„Die Fotografie hat sich seit ihren Anfängen nicht verändert, wenn man von ihren technischen Aspekten absieht, die für mich keine wichtige Rolle spielen. Die Fotografie ist nur scheinbar ein einfaches Metier; als vielseitiger und mehrdeutiger Prozess bietet es denen, die es betreiben, nur einen gemeinsamen Nenner: das Instrument. Was aus diesem Aufnahmegerät herauskommt, entgeht nicht den ökonomischen Zwängen einer Welt der Verschwendung, entkommt nicht ihren ständig zunehmenden Spannungen und ökologischen Konsequenzen.“ (Aus: Henri Cartier-Bresson, Die Erfindung nach der Natur, 1976)
In den 1970ern und der ersten Hälfte der 1980er-Jahre verschob sich die Rolle der Fotografie innerhalb der bildenden Kunst von der eines Nebendarstellers zu ihrem Leitmedium. Anders ausgedrückt: Seit spätestens 1985 ist die Fotografie als Hauptdarstellerin auch in Europa angekommen. Ihre technischen und wahrnehmungstechnischen Bedingungen haben sich von Anbeginn an kaum verändert. Verändert haben sich aber der Blick des Fotografen und seine Ideen, die das Bild bereits formen, bevor es entsteht.
Der Blick der Künstler fällt auf die Alltäglichkeiten des Lebens. Das Unscheinbare, Beiläufige, das Gewöhnliche wird entdeckt, von den Künstlern in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und somit bedeutsam. Es ist der bereits zitierte decisive moment und nicht das decisive motif, auf den es ankommt, nicht das Was, sondern das Wie. Es ist nicht die Bedeutung des einzelnen Ereignisses, die eine künstlerische Auseinandersetzung rechtfertigt, sondern es ist die künstlerische Sprache an sich, die Autorschaft, die den Gradmesser angibt.
Gerade in den 1960er- und 1970er-Jahren gelangt die Peripherie der Städte in den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses, bekommen die Vororte in der Fotografie eine große Bedeutung. Hier spielt sich das wirkliche Leben eines Großteils der Bevölkerung ab, hier wird gewohnt, gelebt, gearbeitet, gehandelt, gekauft und erzeugt. Die historischen Zentren hingegen verlieren langsam ihre angestammten Positionen.
Wirft man abschließend noch einen Blick auf den Schauplatz, an dem die Nebendarsteller von Carolin Thummes agieren, so kann man auch hier diese Verschiebung der Interessen feststellen. Der öffentliche Raum ist seit den späten 1960er-Jahren immer stärker zu einem Handlungsraum für alle geworden. Er dient nicht mehr allein der mächtigsten Gruppe zur Manifestation ihrer Ideen, sondern er wird zeitweise von vielen verschiedenen Gruppen in Anspruch genommen. Der öffentliche Raum ist kein neutraler Raum, sondern etwas Veränderbares und Vorläufiges, er ist heute ein soziales Konstrukt, das immer neu definiert werden muss.
Er hat verschiedene Wertigkeiten, je nach Zonen. Er ist ein Wirtschaftsraum, fungiert als Werbeträger, Erholungsraum, Verkehrsraum, Kommunikationsraum, sozialer Raum und als Raum, in dem Kunst stattfindet.
Auf dieser globalen Entwicklung fußt das Projekt von Carolin Thummes; sie ermöglicht es der Künstlerin, ihre Nebendarsteller auf der Bühne des öffentlichen Raumes handeln zu lassen. Es ist ihr Blick, ihre Sicht auf die Welt, die den Nebendarsteller in der zeitgenössischen Kunst verankert. Indem sie sich auf ein vollkommen unwichtiges Motiv konzentriert, das nichts Repräsentatives an sich hat, mit Beharrlichkeit und Witz über einen langen Zeitraum daran festhält und immer wieder von nichts anderem als von scheinbarer Beiläufigkeit und Banalität erzählt, verstehen wir ihre Exaktheit und lassen uns von der Einzigartigkeit des Hydranten und seiner Verkleidungen faszinieren. Thummes will keine Avantgarde sein, sie gibt uns keine Informationen, sie verspricht uns nichts für die Zukunft. Sie konfrontiert uns allein durch ihre Autorschaft und mit der Faszination, die sie für den Gegenstand empfindet. Sie hat ausgewählt und entschieden, sie erzählt über das Hier und Heute, und es liegt am Betrachter, es ihr gleichzutun.
Magazin untitled (Herbst 2011)
Kronen Zeitung (Salzburg Ausgabe) vom 15.9.2015
Blickkontakt:Dr. Petra Noll, Kuratorin und Autorin für aktuelle Kunst
Die Arbeit macht aufmerksam auf ein heute sich stetig reduzierendes Sozialverhalten und damit verbundene Kontaktarmut. Dynamische Wechselseitigkeit, körperliche Präsenz, persönlicher Dialog und direkter Blickkontakt scheinen – aus Unsicherheit und Angst vor dem „Anderen“, dem schwer einschätzbaren „Fremden“ – zurückgetreten zu sein vor einem egozentrisch ausgerichteten Dasein in einer zunehmend digitalisierten Welt. Nichtbeachtung und Einsamkeit sind hier nicht selten die Begleiter. Carolin Thummes antwortet darauf mit eindringlichen Porträts, die uns das Kostbare einer leiblichen Präsenz vor Augen führen. Aber die dargestellte Situation bleibt ambivalent wie das Leben selbst; so sind die Fotografien nicht auf voyeuristische Sinnlichkeit reduziert. Vielmehr werden die BetrachterInnen durch intensive Blicke herausgefordert, und auch die Porträtierte kann ihr Ich nicht verbergen (Augen als Spiegel der Seele) – obwohl es der Künstlerin nicht grundsätzlich um identitätsstiftende Untersuchungen geht. So steckt in jedem fotografischen Porträt sowie in jedem „live“-Kontakt, in jedem „Vom-anderen-gesehen-werden“ auch die Gefahr des Ausgeliefertseins.
Thomas Licek - Managing Director, Eyes On – Monat der Fotografie Wien
„Blickkontakt“: Sind Sie jemand, der ihn sucht oder doch lieber vermeidet? Wahrscheinlich werden Sie sagen, dass es darauf ankommt. Wo und mit wem. Hier, mit dieser jungen Frau auf den Fotos? Ich schaue zurück, weil ich mich sicher fühle. Würde ich ihr auf der Straße begegnen wäre es wohl anders. Ist ihr Blick ein- oder aufdringlich? Irgendetwas irritiert mich. Ist es die Mode, die Zigarette – oder doch nur diese selbstbewusste Art zu posieren? Kann es tatsächlich sein, dass diese vor knapp zwanzig Jahren aufgenommenen Bilder schon Zeugnis einer anderen Kultur sind?
Der Blickkontakt wird zum Rückblick in die eigene Vergangenheit. Ich versinke in einer ambivalenten Erinnerung, in der sich der Moment über Jahre dehnt. Ein Foto als Auslöser.
Carolin Thummes gelingt es durch die raffinierte Gegenüberstellung von Text und Fotografie fast schon wehmütige Erinnerungen an eine prä-digitale Ära wachzurufen. Während sich in den Bildern zumindest die Möglichkeit einer zwischenmenschlichen Beziehung manifestiert zeigt sich in dem dekonstruierten und in oft sinnlose Fetzen zerrissenen Titel die Achtlosigkeit heutiger Kommunikation. In „Blickkontakt“ wirkt die Verlockung des eventuell Versäumten effektvoller als die Mahnung vor der Isolation und macht damit die reale Welt erstrebenswerter als die virtuelle.
profil vom 18.4.2014
woman vom 11.4.2014
Impressum / Kontakt:© 2019 Carolin Thummes
Film: Have a Great Day [Hofer Filmtage 1998]
Film: Der König vom Block [Filmfest München 2001]
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2001
Süddeutsche Zeitung vom 24.10.2001
Film: Hochzeitszone (Der schönste Tag) [Filmfest International Panorama Athen 2005]
Der Nebendarsteller:Gabriele Wagner – Fotohof Salzburg
Carolin Thummes fotografiert Hydranten seit der Zeit ihres Studiums an der Hochschule für Fernsehen und Film in München in den späten 1980er-Jahren praktisch überall und ungeniert. Eine große Anzahl an Arbeiten ist seither entstanden, die Werkidee hat immer noch Gültigkeit und wird kontinuierlich fort- bzw. umgesetzt.
Handelt es sich bei ihrer Serie um ein Zeitdokument oder um die Geschichte eines bestimmten Ortes? Weder noch. Vielmehr liegt uns ein unerschöpfliches Porträtarchiv eines Wasserverteilersystems vor, das gleichzeitig als Archiv von Geschichten fungiert. Die Fotografin beschreibt ihr Tun selbst: „Ich folge den Protagonisten des Alltags, tauche in ihre Welt ein, lasse mich fallen.“ Sie erklärt uns mit ihren Fotografien nichts über Funktionsweise und technische Besonderheiten dieser meist übersehenen Säulen, sondern berichtet von ihnen, als führten sie ein eigenes Leben, einen eigenen Alltag als Nebendarsteller der Siedlungsgebiete.
Obwohl Thummes in der Regel mit bewegten Bildern, sprich Filmen umgeht, ist in dieser Serie jedes Bild nach klassischen Gestaltungsprinzipien der Fotografie angelegt. Der Bildaufbau folgt den Regeln des goldenen Schnitts, was sich dadurch zeigt, dass Carolin Thummes den Hydranten meist exakt auf die Drittellinie setzt. Diese erhält man, indem man die Bildfläche vertikal oder horizontal in drei gleiche Teile teilt. Durch dieses einfache Mittel der Flächengliederung wird das Bild dynamisiert und mit erzählerischem Potenzial ausgestattet; zugleich wird dem Betrachter klargemacht, wer hier der Protagonist der Erzählung ist. Ein weiteres wichtiges Gestaltungsmittel in der Fotografie ist das Licht. Mit Hilfe des Lichts kann ein Künstler das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Vergleicht man den Bildraum mit einem Bühnenraum, wird dies sofort verständlich: Die für die Aussage wichtigen Partien stehen im Licht, sind beleuchtet oder leuchten selbst. Die Perspektive der Fotografin, ihr bei der Aufnahme eingenommener Standpunkt, fungiert als weiteres Gestaltungsmittel. Thummes begibt sich in der Regel mit dem Protagonisten auf Augenhöhe – sie berichtet aus der Sicht des Hydranten. Dadurch weist sie dem unbelebten Gegenstand einen Aktionsraum zu. Sie bindet den Hydranten in ein Achsensystem ein, was ihn einerseits im Bildraum fixiert und andererseits zu seiner Umgebung in Beziehung setzt. Der Nebendarsteller des Stadtraums wird formal und inhaltlich zum Dreh- und Angelpunkt der Bilderzählung.
Einige Fotografien widmen sich allein dem Gegenstand. In ihnen gibt es nichts anderes zu betrachten als den schlichten Hydranten. Meist wählt die Künstlerin dazu die Draufsicht. In der Regel verleiht die Vogelperspektive einem Gegenstand oder Menschen eine untergeordnete Rolle, da die erhöhte Position alles Dargestellte gleichwertig erscheinen lässt. Thummes setzt die Draufsicht hier jedoch nicht zur Nivellierung ein, sondern als Moment der Hervorhebung. Sie konzentriert sich in diesen Aufnahmen auf Details, beispielsweise die obere Abdeckung, den Kopf, des Hydranten. Die Umgebung wird auf ein Minimum reduziert bzw. ganz ausgeblendet. Nur der Gegenstand zählt, ihm gebührt alle Aufmerksamkeit, seine Erscheinung steht im Fokus, gezeichnet von der Brutalität des urbanen Raumes, der Einwirkung der Jahreszeiten und der Umwelteinflüsse. Stets bewahrt der Hydrant seine Würde; Roststellen, abgesplitterte Farbe, vergangener Glanz, kleine Blessuren betonen nicht die Vergänglichkeit, sondern tragen bei zu seinem Ruhm. Mit der Ästhetisierung der äußeren Erscheinungsform des Hydranten, die sich an der Porträtfotografie orientiert, werden seine formalen Eigenschaften als schön gewürdigt und somit innerlich anthropomorphisiert. Der Nebendarsteller wird in diesen Porträts zu einer tragikomischen, des Leidens fähigen Figur, die auf seltsame Weise teilnimmt am sie umgebenden Geschehen.
Das eingangs beschriebene System der fotografischen Sprache lässt uns den Hydranten als Zentrum des Bildes wahrnehmen, auch wenn er – gemäß seiner Stellung als Nebendarsteller – am Bildrand positioniert ist. Formal betrachtet steht er im Fokus der Aufmerksamkeit. Der Hydrant wird zum Akteur bei Aufmärschen, Demos und Marathons, zum Helfer bei Umzügen, zum Zeugen von Verkehrsdelikten, zum Träger von Informationen usw. Jede Bewegung, ob durch schräge Linien oder Bewegungsunschärfen im Bild hervorgerufen, verankert den Hydranten an einer strategisch zentralen Stelle und entwickelt so die Handlung rund um ihn. Als menschenähnlicher Akteur nimmt er eine Schlüsselrolle im Bildgeschehen ein.
Thummes folgt mit dieser Vorgehensweise einer bewährten fotografischen Tradition, die unter anderen von Henri Cartier-Bresson in den 1950er-Jahren als State of the Art der Fotografie vertreten? wurde: der des decisive moment, des Moments des richtigen Augenblicks, eingefroren mit der Kamera und von Cartier-Bresson zur Meisterschaft gebracht. Im Aufsatz „Der entscheidende Augenblick“ von 1952 empfiehlt er:
„Damit ein Sujet mit seiner ganzen Intensität zur Geltung kommt, muss das Formale mit aller Entschiedenheit geklärt sein. Man muss seine Kamera mit einer bestimmten Beziehung zu dem Objekt in den Raum stellen – und damit treten wir in das umfangreiche Gebiet der Komposition ein. Die Fotografie ist für mich Feststellung eines bestimmten Rhythmus der Oberflächen, Konturen und Tonwerte innerhalb der Wirklichkeit; das Auge schneidet sich aus dieser Wirklichkeit ein Sujet heraus, und der Apparat braucht dann nur seine Schuldigkeit zu tun, die Entscheidung des Auges auf die Fläche des Films zu bannen. Ein Foto wird in seiner Totalität betrachtet mit einem Male genau wie ein Gemälde; seine Komposition von etwas Gleichzeitigem, die organische Koordination optischer Elemente. Man kann nichts ins Blaue hinein komponieren, es gehört eine Notwendigkeit dazu, und man kann auch nicht Inhalt und Form voneinander trennen.“ (Aus: Henri Cartier-Bresson, Der entscheidende Augenblick, 1952)
Thummes’ Praxis folgt ein Stück weit dieser Empfehlung von Cartier-Bresson. Ist sie dadurch nur eine Epigonin des berühmten Dokumentaristen? Was macht ihre Nebendarsteller zu Zeitgenossen?
1976 ruft Cartier-Bresson noch einmal die Thesen seines Aufsatzes von 1952 in Erinnerung und erweitert sie mit einigen Zusätzen – 13 Jahre danach wird Carolin Thummes mit ihrer Serie vom Nebendarsteller beginnen.
„Die Fotografie hat sich seit ihren Anfängen nicht verändert, wenn man von ihren technischen Aspekten absieht, die für mich keine wichtige Rolle spielen. Die Fotografie ist nur scheinbar ein einfaches Metier; als vielseitiger und mehrdeutiger Prozess bietet es denen, die es betreiben, nur einen gemeinsamen Nenner: das Instrument. Was aus diesem Aufnahmegerät herauskommt, entgeht nicht den ökonomischen Zwängen einer Welt der Verschwendung, entkommt nicht ihren ständig zunehmenden Spannungen und ökologischen Konsequenzen.“ (Aus: Henri Cartier-Bresson, Die Erfindung nach der Natur, 1976)
In den 1970ern und der ersten Hälfte der 1980er-Jahre verschob sich die Rolle der Fotografie innerhalb der bildenden Kunst von der eines Nebendarstellers zu ihrem Leitmedium. Anders ausgedrückt: Seit spätestens 1985 ist die Fotografie als Hauptdarstellerin auch in Europa angekommen. Ihre technischen und wahrnehmungstechnischen Bedingungen haben sich von Anbeginn an kaum verändert. Verändert haben sich aber der Blick des Fotografen und seine Ideen, die das Bild bereits formen, bevor es entsteht.
Der Blick der Künstler fällt auf die Alltäglichkeiten des Lebens. Das Unscheinbare, Beiläufige, das Gewöhnliche wird entdeckt, von den Künstlern in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und somit bedeutsam. Es ist der bereits zitierte decisive moment und nicht das decisive motif, auf den es ankommt, nicht das Was, sondern das Wie. Es ist nicht die Bedeutung des einzelnen Ereignisses, die eine künstlerische Auseinandersetzung rechtfertigt, sondern es ist die künstlerische Sprache an sich, die Autorschaft, die den Gradmesser angibt.
Gerade in den 1960er- und 1970er-Jahren gelangt die Peripherie der Städte in den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses, bekommen die Vororte in der Fotografie eine große Bedeutung. Hier spielt sich das wirkliche Leben eines Großteils der Bevölkerung ab, hier wird gewohnt, gelebt, gearbeitet, gehandelt, gekauft und erzeugt. Die historischen Zentren hingegen verlieren langsam ihre angestammten Positionen.
Wirft man abschließend noch einen Blick auf den Schauplatz, an dem die Nebendarsteller von Carolin Thummes agieren, so kann man auch hier diese Verschiebung der Interessen feststellen. Der öffentliche Raum ist seit den späten 1960er-Jahren immer stärker zu einem Handlungsraum für alle geworden. Er dient nicht mehr allein der mächtigsten Gruppe zur Manifestation ihrer Ideen, sondern er wird zeitweise von vielen verschiedenen Gruppen in Anspruch genommen. Der öffentliche Raum ist kein neutraler Raum, sondern etwas Veränderbares und Vorläufiges, er ist heute ein soziales Konstrukt, das immer neu definiert werden muss.
Er hat verschiedene Wertigkeiten, je nach Zonen. Er ist ein Wirtschaftsraum, fungiert als Werbeträger, Erholungsraum, Verkehrsraum, Kommunikationsraum, sozialer Raum und als Raum, in dem Kunst stattfindet.
Auf dieser globalen Entwicklung fußt das Projekt von Carolin Thummes; sie ermöglicht es der Künstlerin, ihre Nebendarsteller auf der Bühne des öffentlichen Raumes handeln zu lassen. Es ist ihr Blick, ihre Sicht auf die Welt, die den Nebendarsteller in der zeitgenössischen Kunst verankert. Indem sie sich auf ein vollkommen unwichtiges Motiv konzentriert, das nichts Repräsentatives an sich hat, mit Beharrlichkeit und Witz über einen langen Zeitraum daran festhält und immer wieder von nichts anderem als von scheinbarer Beiläufigkeit und Banalität erzählt, verstehen wir ihre Exaktheit und lassen uns von der Einzigartigkeit des Hydranten und seiner Verkleidungen faszinieren. Thummes will keine Avantgarde sein, sie gibt uns keine Informationen, sie verspricht uns nichts für die Zukunft. Sie konfrontiert uns allein durch ihre Autorschaft und mit der Faszination, die sie für den Gegenstand empfindet. Sie hat ausgewählt und entschieden, sie erzählt über das Hier und Heute, und es liegt am Betrachter, es ihr gleichzutun.
Magazin untitled (Herbst 2011)
Kronen Zeitung (Salzburg Ausgabe) vom 15.9.2015
Blickkontakt:Dr. Petra Noll, Kuratorin und Autorin für aktuelle Kunst
Die Arbeit macht aufmerksam auf ein heute sich stetig reduzierendes Sozialverhalten und damit verbundene Kontaktarmut. Dynamische Wechselseitigkeit, körperliche Präsenz, persönlicher Dialog und direkter Blickkontakt scheinen – aus Unsicherheit und Angst vor dem „Anderen“, dem schwer einschätzbaren „Fremden“ – zurückgetreten zu sein vor einem egozentrisch ausgerichteten Dasein in einer zunehmend digitalisierten Welt. Nichtbeachtung und Einsamkeit sind hier nicht selten die Begleiter. Carolin Thummes antwortet darauf mit eindringlichen Porträts, die uns das Kostbare einer leiblichen Präsenz vor Augen führen. Aber die dargestellte Situation bleibt ambivalent wie das Leben selbst; so sind die Fotografien nicht auf voyeuristische Sinnlichkeit reduziert. Vielmehr werden die BetrachterInnen durch intensive Blicke herausgefordert, und auch die Porträtierte kann ihr Ich nicht verbergen (Augen als Spiegel der Seele) – obwohl es der Künstlerin nicht grundsätzlich um identitätsstiftende Untersuchungen geht. So steckt in jedem fotografischen Porträt sowie in jedem „live“-Kontakt, in jedem „Vom-anderen-gesehen-werden“ auch die Gefahr des Ausgeliefertseins.
Thomas Licek - Managing Director, Eyes On – Monat der Fotografie Wien
„Blickkontakt“: Sind Sie jemand, der ihn sucht oder doch lieber vermeidet? Wahrscheinlich werden Sie sagen, dass es darauf ankommt. Wo und mit wem. Hier, mit dieser jungen Frau auf den Fotos? Ich schaue zurück, weil ich mich sicher fühle. Würde ich ihr auf der Straße begegnen wäre es wohl anders. Ist ihr Blick ein- oder aufdringlich? Irgendetwas irritiert mich. Ist es die Mode, die Zigarette – oder doch nur diese selbstbewusste Art zu posieren? Kann es tatsächlich sein, dass diese vor knapp zwanzig Jahren aufgenommenen Bilder schon Zeugnis einer anderen Kultur sind?
Der Blickkontakt wird zum Rückblick in die eigene Vergangenheit. Ich versinke in einer ambivalenten Erinnerung, in der sich der Moment über Jahre dehnt. Ein Foto als Auslöser.
Carolin Thummes gelingt es durch die raffinierte Gegenüberstellung von Text und Fotografie fast schon wehmütige Erinnerungen an eine prä-digitale Ära wachzurufen. Während sich in den Bildern zumindest die Möglichkeit einer zwischenmenschlichen Beziehung manifestiert zeigt sich in dem dekonstruierten und in oft sinnlose Fetzen zerrissenen Titel die Achtlosigkeit heutiger Kommunikation. In „Blickkontakt“ wirkt die Verlockung des eventuell Versäumten effektvoller als die Mahnung vor der Isolation und macht damit die reale Welt erstrebenswerter als die virtuelle.
profil vom 18.4.2014
woman vom 11.4.2014
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